Das Herz wird nicht dement

Dieses Buch von Udo Baer und Gabi Schotte-Lang habe ich mit allerhöchstem Interesse gelesen. Es richtet sich an Pflegende und Angehörige von Menschen, die an Demenz erkrankt sind. Das ist auf der einen Seite wunderbar, denn es eröffnet Perspektiven und Möglichkeiten, Menschen mit und in ihrer Demenz zu erreichen. Es geht um Würde und Respekt, Wertschätzung und Liebe, und es hat mich an vielen Stellen unglaublich berührt.

Auf der anderen Seite hat es die Frage aufgeworfen, wieso das Buch geschrieben werden musste? Ist diese Haltung einem anderen Menschen gegenüber nicht selbstverständlich? Oder sollte sie es nicht sein? In dem Buch bekommen die Leser*innen ein Handwerkszeug zur Verfügung, das zu einer gelungenen Kommunikation mit dem erkrankten Menschen beitragen kann. Das Buch kann dich dabei unterstützen, den eigenen inneren Fokus auszurichten, um mitfühlend wahrzunehmen, was die Situation bei Dir und Deinem Gegenüber auslöst. Dabei steht der Mensch im Mittelpunkt, nicht seine Erkrankung. Es geht immer wieder um den Menschen an sich – hier insbesondere mit dem Blick darauf, dass er demenziell erkrankt ist.

Das Anliegen der Autoren ist es, dass wir, die Pflegenden oder Angehörigen, unser Augenmerk auf den Menschen richten, auf seine Würde, sein gelebtes Leben, darauf, dass wir ihm mit Respekt und Wertschätzung begegnen, dass wir uns vorstellen, was ihn bewegen mag in seiner Traurigkeit oder seinem Ärger, dass wir erspüren, was der Mensch oder die Situation gerade benötigt, damit sich alle Beteiligten gut fühlen. Es geht um gelebte Empathie.

Und da ist wieder diese Frage: Muss mein Gegenüber deshalb erst dement werden? Damit ich über dieses Buch erfahre, wie ich mit einem Menschen umgehen, seine Würde bewahren, die Unsicherheit stehen lassen kann, um festzustellen, dass Herzenskommunikation das Einzige ist, was wirklich hilft?

Nein, sicher nicht. Aber vielleicht bietet sich über diese Erkrankung die Gelegenheit, vorgefasste Meinungen über einen Menschen loszulassen. Vielleicht können wir durch seine Erkrankung besser sehen, was im Leben entscheidend ist. Der an Demenz erkrankte Mensch verliert „alles“. Er verliert das Wissen über Besitz, Bildung, verliert die Fähigkeit, zu erkennen und zu denken. Am Ende bleiben die Erinnerungen oft gekoppelt an Gefühle. Musik, Farben, Bilder sprechen ihn, seine Erinnerungen an, und wir können, wenn wir uns darauf einlassen, mitten in sein Herz zu schauen und darüber ein Gefühl bekommen, wer mein Gegenüber tatsächlich ist: Es zeigt sich die Essenz dieses besonderen Menschen.

Doch auch Menschen ohne Demenz haben die Möglichkeit, in Kontakt mit ihrer Essenz zu kommen. Die Psychosynthese nach Roberto Assagioli zeigt auf vielfältige Weise Wege auf, wie ein respekt- und würdevolles Leben möglich ist.

Ich gehe nun bereits seit vielen Jahren den Pfad der Psychosynthese. Ich habe viel gehört, gelernt und erlebt. Seit letztem Jahr arbeite ich mit an Demenz erkrankten Menschen, und erst dadurch habe ich das eine oder andere wirklich auf einer tieferen Ebene begriffen. Erst über das Vergessen der anderen habe ich mich selber erinnert. Es kommt nicht darauf an, was der Mensch darstellt, sondern wer er wirklich ist. In der Demenz verliert er alle äußeren sogenannten Sicherheiten. Das, was vor der Demenz wichtig erschien, verliert an Bedeutung. Oder es zeigt sich in Gefühlen: Unsicherheit, Bedürftigkeit, aber auch Zufriedenheit, Glück. Das, was bleibt, sind die Gefühle.

Wir wissen heute nicht wirklich, wieso Menschen an Demenz erkranken, und wir wissen auch nicht, ob Du oder ich zu diesen Menschen gehören werden. Ich habe erlebt, wie sehr ein unverarbeitetes Trauma einer Vergewaltigung zu Schmerz und Scham führte oder eine tief vergrabene Schuld zu Aggression und anderen Abwehrreaktionen. Aber ich habe auch erleben dürfen, wie eine aus dem Herzen gesprochene Liebeserklärung Ruhe und Glück ausgelöst hat. Wie schön war es, dem Wunsch nach einem „Schwof“ nach Elvis Presleys „Love me tender“ nachzukommen. Sie war glücklich. Sie hat sich erinnert. Ich war nur Mittel zum Zweck, Lückenfüller für die Erinnerung, und es hat sich gut angefühlt. Das Eigene sein lassen. Eintauchen in das, was meinem Gegenüber möglich ist. Ehrlich. Authentisch. Emphatisch. Mit Herz.

Vielleicht ist das bei Menschen mit Demenz „leichter“? Sie erwarten nicht viel von ihrem Gegenüber, nur Respekt und eine würdevolle Begegnung. Was ihnen in der Kommunikation hilft, ist das Gefühl, welches ihr Gegenüber in ihnen auslöst. Darüber finden sie eine Verbindung.

Ist es in anderen Begegnungen nicht auch so? Reagieren wir nicht intuitiv auf das, was unser Gegenüber in uns auslöst? Dabei gleichen wir das oft noch mit äußeren Gegebenheiten ab: Woher kommt jemand? Was macht er beruflich? Ist sie erfolgreich? Ist sie vermögend? In welcher Stimmung begegnen wir uns? … Wie viel ehrlicher wäre ein Miteinander, wenn wir die Herzen sprechen ließen?

Im Umgang mit Menschen mit Demenz bleibt uns nicht viel anderes möglich. Und wenn wir uns sonst vielleicht eher blenden lassen, die Werte von Respekt, Würde, Authentizität und Liebe eher verbergen, so können wir uns in diesem Rahmen, quasi unkontrolliert vom Gegenüber, vielleicht eher trauen, alle Hemmnisse fallen zu lassen und in eine echte Herzenskommunikation einzutauchen. Vielleicht ist Verzicht auf Kontrolle der Schlüssel, der uns Herzenskommunikation ermöglicht – eine Haltung, die wahres menschliches Miteinander erst möglich macht.

Ich möchte dir dieses Buch ans Herz legen. Gleichgültig, ob Du es mit Menschen mit Demenz zu tun hast oder nicht. Es stellt eine Bereicherung dar und öffnet Perspektiven des Mitgefühls. Es vermittelt eine positive Sicht auf das Leben und ermutigt uns, dass Leben voller Fülle zu leben. Schaffe Erinnerungen! Bewahre Dir gute Momente und wertvolle Begegnungen in Deinem Herzen. Fülle Deine innere Schatztruhe und lasse sie leuchten. Und erinnern Dich: das Herz wird nicht dement!

Herzliche Grüße

Heike Kaiser-Blömker

Baer, Udo; Schotte-Lange, Gabi (2013, 2019): Das Herz wird nicht dement, 10. Edition, Deutschland: Beltz

ISBN 978-3-407-86584-7